
Der Halo-Effekt (englisch halo = Heiligenschein) ist ein spannendes, aber oft unterschätztes Wahrnehmungsphänomen. Er beschreibt unsere menschliche Tendenz, von einem einzelnen positiven oder
auffälligen Merkmal auf die gesamte Persönlichkeit eines Lebewesens zu schließen. Wir sehen etwas, das uns gefällt, und gehen automatisch davon aus, dass auch der Rest „gut“ ist, ohne dafür
Beweise zu haben.
In der Psychologie wurde dieses Phänomen schon 1920 von Edward L. Thorndike beschrieben. Damals sollten Offiziere die Eigenschaften von Soldaten einschätzen. Sie bewerteten Soldaten mit einem
attraktiveren Äußeren oder kräftigem Körperbau nicht nur als schöner, sondern auch als intelligenter, fleißiger und freundlicher. Dieses Urteil war nicht auf Fakten gegründet, sondern auf der
Wirkung eines einzigen Merkmals.
Warum passiert das?
Unser Gehirn arbeitet nicht rein rational. Es nutzt Heuristiken, also gedankliche Abkürzungen, um schnell zu urteilen und Energie zu sparen. Positive Signale wie ein freundlicher Blick,
harmonische Proportionen, weiches Fell, helle Farben oder ein „süßes“ Gesicht lösen angenehme Emotionen aus. Diese Emotionen überstrahlen andere Urteile und führen dazu, dass wir auch andere
Eigenschaften als positiv wahrnehmen.
Neuropsychologisch spielen dabei vor allem das limbische System und das Belohnungszentrum eine Rolle. Sie reagieren auf positive Reize und beeinflussen so unser Urteil, während der präfrontale
Cortex, der für die nüchterne Abwägung zuständig wäre, in diesem Moment in den Hintergrund tritt. Das ist für unser Gehirn effizient, kann aber zu Fehleinschätzungen führen.
Der Effekt wirkt übrigens auch in die andere Richtung. Das nennt man den negativen Halo-Effekt oder Horn-Effekt. Ein einziges als negativ empfundenes Merkmal, z.B. eine Narbe, eine unbeliebte
Farbe, ein kräftiger Kopf oder ein „grimmiger“ Gesichtsausdruck, kann dazu führen, dass wir einen Hund insgesamt als problematisch oder gefährlich einstufen, selbst wenn er in Wahrheit freundlich
ist.
Gerade im Umgang mit Hunden hat dieser Wahrnehmungsfehler weitreichende Folgen. Viele Menschen sehen einen Hund, der ihnen optisch gefällt, z.B. den klassischen Golden Retriever mit weichem Fell
und sanftem Blick, und gehen automatisch davon aus, dass dieser Hund auch sozial verträglich und nett ist. Warnsignale in seiner Körpersprache, wie Abwenden, Züngeln, feine Muskelspannung, werden
übersehen oder verharmlost. Umgekehrt begegnen wir Hunden mit breitem Kopf, dunklem Fell oder intensiver Mimik oft mit Skepsis, selbst wenn sie in diesem Moment vollkommen entspannt und
freundlich sind.
Solche Fehleinschätzungen haben Konsequenzen:
- Wir unterschätzen Risiken, gehen zu nah an fremde Hunde heran oder lassen unsere eigenen Hunde oder Kinder zu ihnen.
- Wir missverstehen Körpersprache und reagieren nicht rechtzeitig auf Anzeichen von Stress oder Abwehr.
- Wir sind bei „süßen“ Hunden nachsichtiger und lassen Dinge durchgehen, die wir bei einem weniger „attraktiven“ Hund sofort unterbinden würden.
- Bestimmte Rassen werden stigmatisiert (z.B. Listenhunde), andere dagegen idealisiert (z.B. Golden Retriever).
Für uns als Hundehalter*innen bedeutet das:
Wir müssen uns dieses Effekts bewusst sein und lernen, ihn zu hinterfragen. Ein sicheres und respektvolles Miteinander entsteht nicht, weil ein Hund hübsch ist, sondern weil wir seine
Körpersprache und sein Verhalten aufmerksam beobachten und verstehen. Es lohnt sich, den Blick zu schulen und bewusst zu unterscheiden zwischen dem, was unser Bauch uns aufgrund der Optik
suggeriert, und dem, was der Hund tatsächlich mit seinem Ausdruck und Verhalten kommuniziert.
Der Halo-Effekt zeigt uns, wie leicht wir uns von äußeren Eindrücken täuschen lassen. Wenn wir ihn kennen, können wir uns davor schützen und dadurch fairer und sicherer mit unseren Hunden und
auch mit anderen Menschen umgehen. Letztlich ist es eine Einladung, genauer hinzusehen und nicht auf den „Heiligenschein“ hereinzufallen, den unser Gehirn manchmal über ein Lebewesen legt.
Bianca Oelscher - Landhun.de
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